Vielschichtige Frage, vielschichtige Antwort.
1) Macht es überhaupt Sinn, Begriffe wie „Charakterspiel“ und „Storyspiel“ zu benutzen? Schließlich gibt es ja immer Charaktere, und immer eine Story. Irgendwie. Aber Charakter ist eben nicht gleich Charakter: „Ein menschlicher Krieger“ ist ein anderer Charakter als der Lord Alexej of Har’Daût aus Erid Dania, dessen Mutter ihn für einen Verrat hasst, den er im Alter von 15 Jahren an ihr beging. Ein klassischer Dungeoncrawl ist eine andere Story als ein geschliffener dramatischer Plot in Drei-Akt-Struktur.
Daher macht es schon Sinn, z.B. von Charakterspiel zu sprechen, wenn man eine besondere Betonung der Persönlichkeit und Eigenarten eines Charakters, einschließlich deren Darstellung im Spiel, meint. Und es macht Sinn, z.B. von Storyspiel zu reden, wenn man eine besondere Betonung einer dramatischen Handlung mit Konflikten, Spannungsbogen, Klimax, Auflösung usw. meint. Erfahrungsgemäß sollte man aber dazu sagen, was genau man meint, weil nicht jeder die Begriffe gleich verwendet.
2) Schließen sich Charakter- und Storyspiel nach obiger Definition aus, oder bedingen sie einander? Nein, und nein. Charakterspiel und Storyspiel können Hand in Hand gehen, wenn sie aufeinander abgestimmt sind. Dafür gibt es verschiedene Ansätze. Z.B. die Story mit den Charakteren als Protagonisten. Oder die Charaktere, die die Story reflektieren wie Spiegel, indem sie als Nicht-Protagonisten an ihr teilhaben und auf sie reagieren (Beispiele aus der Literatur wären etwa die Ich-Erzähler von Sherlock Holmes oder Moby Dick). Wenn die Charaktere in der Taverne sitzen und IC davon schwärmen, wie sie damals bei der Schlacht von sowieso dabei waren, als alles verloren schien, und dann plötzlich in letzter Sekunde die Kavallerie auftauchte... dann gehen Charakterspiel und Storyspiel Hand in Hand.
Davon unabhängig können sie sich auch ins Gehege kommen, wenn unterschiedliche Prioritäten bestehen. Oder wenn einfach die Gruppe nicht gut genug kommuniziert, um beides in einem vernünftigen Wechsel zusammen zu bringen, was dann nichts mit Vorlieben zu tun hat, sondern schlicht mit mangelhafter Ausführung. Letzteres ist meiner Einschätzung nach das viel verbreitetere Problem als ersteres.
Jedenfalls gibt es aus meiner Sicht kein „entweder Charakterspiel, oder Storyspiel“. Sondern es gibt vier Möglichkeiten: Charakterspiel und Storyspiel, Charakterspiel ohne Storyspiel, Storyspiel ohne Charakterspiel und weder noch. Letzteres könnte z.B. ein klischeehafter Dungeoncrawl sein, bei dem die Charaktere ausschließlich als Miniaturen auf der Battlemap wahrgenommen werden und niemand in direkter Rede spricht.
3) Charakterentwicklung ist noch mal eine ganz eigene Sache. Je mehr passiert, desto eher findet Charakterentwicklung statt. Insofern ist sehr langatmiges Charakterspiel der Charakterentwicklung nicht förderlich, rasantes Storyspiel schon. Aber es kann auch langatmiges Storyspiel und rasantes Charakterspiel geben. Oder, wie gesagt, Charakterspiel und Storyspiel zusammen. Und alles kann mit oder ohne Charakterentwicklung vonstatten gehen.
Klar, irgendwie hat sich jeder Charakter entwickelt, den man eine längere Zeit gespielt hat. Bei fast allen Systemen wird er mit der Zeit kompetenter. Durch die Abenteuer lernt er wahrscheinlich neue NSCs kennen, er bekommt vielleicht Gegenstände, die irgendeine Bedeutung für ihn haben usw. Aber dadurch wird er erstmal einfach nur besser definiert. Ob er sich wirklich entwickelt, im Sinne einer Veränderung der Persönlichkeit, oder ob er derselbe bleibt und wir jetzt nur mehr über ihn wissen, das ist unabhängig davon, ob man einen Schwerpunkt auf Charakterspiel, Storyspiel oder beides legt.
4) Und dann gibt es noch das rollenspieltheoretische GNS-Modell, das mit all diesen Einteilungen überhaupt nichts zu tun hat.